Das ICH im Spiegel – Effekte videobasierter Kommunikation

Videobasierte Kommunikation schafft eine Situation, in der wir uns bei eingeschalteter Kamera gleichsam wie in einem Spiegel sehen und uns zugleich darüber bewusst sind, dass wir auch von anderen gesehen werden. Dies führt zu mehr Selbstaufmerksamkeit und Selbstkontrolle – Effekte, die sich bewusst nutzen lassen. In unseren Online-Trainings und -workshops in den letzten Monaten konnten wir diese Effekte intensiv beobachten und analysieren.

In den letzten Monaten waren viele von uns gezwungen, die Kommunikation mit Kolleginnen/Kollegen, Teammitgliedern, Mitarbeitenden und Kunden mittels videobasierter Kommunikation stattfinden zu lassen. Videobasierte Kommunikationstools triggern zwei Aspekte, die sich fundamental von der „klassischen“ Face-to-Face-Situation unterscheiden:

  • Ich sehe mich bei eingeschalteter Kamera gleichsam wie in einem Spiegel
  • Ich bin mir stärker bewusst, dass ich über meine Kamera auch von den anderen gesehen werde

Studien zur computervermittelten Kommunikation zeigen, dass dies Auswirkungen auf den Aufmerksamkeits-Fokus und die Selbstwahrnehmung der Beteiligten hat und zu mehr Selbstaufmerksamkeit bzw. Selbstfokus führt. Die vorliegende Forschung zur Selbstaufmerksamkeit wiederum weist auf, dass erhöhte Selbstaufmerksamkeit zu mehr Selbstregulation mit entsprechenden (positiven und negativen) Effekten führt.

In der „klassischen“ Face-to-face-Situation blicken wir gleichsam eng verbunden mit uns selbst, unseren Gefühlen und Ich-Zuständen „hinaus in die Welt“ und auf andere: Diese Form der „Selbstvergessenheit“ kann – zum Beispiel im Zuge einer hitzigen Diskussion in einem Meeting – dazu führen, dass wir uns in einer Art und Weise verhalten, die nicht unserer Idealvorstellung von uns selbst entspricht. Wir haben eher wenig Distanz zu uns und weniger Möglichkeiten (bzw. weniger Anlass) zur Selbstkontrolle.

In videovermittelter Kommunikation hingegen finden wir uns in einer Situation wieder, in der wir mehr Distanz zu uns selbst haben und uns – da wir uns selbst gleichsam wie in einem Spiegel sehen – auch stärker bewusst sind, dass wir für andere sichtbar sind. Durch einen Spiegel und/oder eine Kamera wird jener Teil von mir aktiviert, den ich als Ideal meiner selbst definiere: Wie oder wer will ich sein und wie oder als wer will ich von anderen gesehen werden? Unser Fokus richtet sich stärker auf unsere eigene Wirkung. Dies erhöht unsere Selbstkontrolle und aktiviert unsere Selbstreflexion. Die erhöhte Selbstaufmerksamkeit ist jedoch anstrengend und benötigt (und verbraucht) kognitive Ressourcen – eine Erfahrung, die viele von uns in längeren Online-Meetings oder Online-Workshops gemacht haben.

Dies führt sowohl zu positiven wie auch negativen Effekten, die es bei der Wahl des Kommunikations-Mediums künftig noch stärker zu beachten gilt:

Erhöhte Selbstaufmerksamkeit führt zum einen dazu, dass wir unser eigenes Verhalten bewusster aussteuern, anderen mehr Unterstützung anbieten und sozial unerwünschte Stereotype unterdrücken. Bei erhöhter Selbstaufmerksamkeit verringert sich die Neigung zur Selbstdarstellung, dominantem Verhalten und entsprechend negativer Gruppendynamik. Dies ist wichtig für die Zusammenarbeit z.B. in verteilt arbeitenden internationalen Teams oder in interdisziplinären Projektgruppen.

Erhöhte Selbstaufmerksamkeit kann ungekehrt jedoch zu „angepassterem“ Verhalten führen, was insgesamt zu einer schwächeren Teamleistung und einer höheren Bereitschaft zum Gruppendenken führen kann.

Erste Schlussfolgerungen:

Videobasierte Kommunikation mit eingeschalteter Kamera und der damit verbundenen Möglichkeit sich selbst zu sehen und von anderen gesehen zu werden, erscheint dann als sinnvoll, wenn es darum geht:

  • die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf das soziale Geschehen innerhalb der Gruppe zu richten
  • den sozialen Zusammenhalt zu stärken und Verbundenheit erfahrbar zu machen
  • sich wertschätzend, würdigend und vorurteilsfrei auszutauschen
  • die gemeinsame Ausrichtung, und die gemeinsamen Ziele zu bekräftigen
  •  gemeinsam Entscheidungen zu treffen oder für bestehende Entscheidungen Verbindlichkeit herzustellen
  • sich sehr sachbezogen, fokussiert und eher „unaufgeregt“ auszutauschen
  • Emotionen auszusteuern
  • Konflikte emotional kontrolliert und sachgerecht zu schlichten
  • Werte und Spielregeln zu etablieren
  • negative bzw. dysfunktionale Gruppendynamik zu vermeiden sowie insgesamt die eher „konstruktiven“ Seiten im Sinne des Ich-Ideals bei den Teilnehmenden zu aktivieren

Diese Effekte ergeben sich allerdings nur, wenn alle Teilnehmenden ihre Kamera auch tatsächlich eingeschaltet haben. Verbindliche Standards sind hier sinnvoll.

Zugleich besteht eine Abhängigkeit von den vorherrschenden Normen und Erwartungen und damit die Gefahr einer (noch) stärkeren Anpassung an vorherrschende Hierachien und „geheime Spielregeln“.

Das “klassische Face-to-Face-Setting” erscheint dann als sinnvoller, wenn es darum geht:

  • sich kontrovers auseinanderzusetzen
  • kreativ um neue oder innovative Problemlösungen zu ringen und sich konstruktiv zu streiten
  • in den Wettbewerb um die besten Ideen zu treten
  • die Bereitschaft zum Querdenken zu erhöhen oder komplexe Aufgaben zu bearbeiten, für es bislang noch keine Routinen oder Best Practices gibt

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen gilt es künftig noch bewusster das für den jeweiligen kommunikativen Anlass geeignete Medium zu wählen: Wann und für welche Gelegenheiten ist es sinnvoll, sich ganz bewusst videobasiert auszutauschen, obwohl die Möglichkeit bestünde sich auch face-to-face zu treffen? Zu welchen Gelegenheiten bzw. Anlässen sollten wir uns jedoch unbedingt face-to-face begegnen? Das Medium ist nie neutral und bestimmt ganz wesentlich die Inhalte und die Form des kommunikativen Geschehens. Die Wahl des adäquaten Mediums ist wichtiger Bestandteil digitaler Führungs- und Teamkompetenz.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert